DER KAKAPO

Bis vor relativ kurzer Zeit - jedenfalls nach evolutionären Maßstäben - bestand die neuseeländische Tierwelt fast ausschließlich aus Vögeln. Nur Vögel konnten den Ort erreichen. Die Vorfahren vieler jetzt dort heimischen Vögel waren ursprünglich hierhergeflogen. Es gab auch noch ein paar Fledermausarten, die Säugetiere sind, aber - und das ist der entscheidende Punkt - es gab keine Räuber. Keine Hunde, keine Katzen, keine Frettchen oder Wiesel, nichts, vor dem die Vögel hätten flüchten müssen. Und natürlich ist das Fliegen ein Mittel zur Flücht. Es ist ein Überlebensmechanismus, und zwar einer, den die neuseeländischen Vögel nicht unbedingt zu brauchen glaubten. Fliegen ist harte Arbeit und kostet eine Menge Energie. Und nicht nur das. Auch zwischen dem Fliegen und dem Essen besteht eine enge Verbindung. Je mehr man ißt, desto schwerer fällt einem das Fliegen. Also passierte es immer häufiger, daß die Vögel, statt einen kleinen Snack zu sich zu nehmen und anschließend wegzuflattern, sich zu einem eher umfangreicheren Mahl niederließen und danach ein bißchen spazierenwatschelten. Als dann schließlich die europäischen Siedler eintrafen und Katzen, Hund, Wiesel und Opossums mitbrachten, watschelten viele der flugunfähigen neuseeländischen Vögel plötzlich um ihr Leben. Die Kiwis, die Takahes - und die alten Eulenpapgeien, die Kakapos. Unter all diesen Vögeln ist der Kakapo der seltsamste. Na schön, wenn man genau darüber nachdenkt, ist wohl auch der Pinguin ein ziemlich sonderbares Geschöpf, nur ist er aud irgendwie robuste Art sonderbar und bestens an die Umgebung angepaßt, in der er lebt, was man vom Kakapo nicht behaupten kann. Der Kakapo ist ein Vogel in der falschen Zeit. Wenn man einem von ihnen in sein großes, rundes, grünlichbraunes Gesicht sieht, wirkt er auf so heitere, unschuldige Art ahnungslos, daß man ihn am liebsten drücken und ihm sagen möchte, daß alles wieder gut wird, obwohl man weiß, daß das wahrscheinlich nicht stimmt. Der Kakapo ist ein extrem dicker Vogel. Ein durchschnittlicher, erwachsener Kakapo wiegt zwischen sechs und sieben Pfund und kann mit seinen Flügeln bestenfalls ein bißchen herumwackeln, wenn er fürchtet, über irgendwas zu stolpern - aber Fliegen ist mit den Dingern vollkommen ausgeschlossen. Traurig ist nur, daß der Kakapo anscheinend nicht bloß vergessen hat, wie man fliegt, sondern zudem vergessen hat, daß er vergessen hat, wie man fliegt. Ein ernstlich beunruhigter Kakapo bringt es zwar fertig, auf einen Baum zu flitzen und von oben abzuspringen, fliegt dann wie ein Stein und landet als wenig eleganter Haufen am Boden. Im großen und ganzen hat es der Kakapo aber nie gelernt, sich Sorgen zu machen. Er hatte ja nie besonders viel, was ihm hätte Sorgen bereiten können. Die meisten Vögel werden angesichts eines Räubers zumindest kapieren, daß irgendwas los ist, und sich zügig in Sicherheit bringen, selbst wenn sie dabei irgendwelche im Nest liegenden Eier oder Küken im Stich lassen müssen - aber nicht der Kakapo. Seine einzige Reaktion angesichts eines Räubers ist, ganz einfach nicht zu wissen, was für eine Lebensform das sein soll. Er hat überhaupt keinen Begriff dabon, daß irgend etwas möglicherweise auf die Idee verfallen könnte, ihm weh zu tun, also neigt er dazu, völlig verwirrt im Nest hocken zu bleiben und dem anderen Tier den nächsten Zug zu überlassen - der in der Regel schnell kommt und entgültig ist. Es ist frustrierend, sich den Unterschied klarzumachen, der durch Sprache entstünde. Die Jahrtausende kriechen verdammt langsam vorbei, während die natürlichen Selektion von Generation zu Generation fahrig nach dem richtigen Weg stochert und dem komischen, anormalen Kakapo, der ein bißchen bescheuerter ist als seine Zeitgenossen, so lange unbehelligt läßt, bis die gesamte Art endlich auf den Trichter kommt. Das alles ließe sich auf eine Sekunde abkürzen, wenn einer von ihnen sagen könnte: "Solltet ihr eins von diesen Dingern mit Schnurrbart und kleinen, spitzen Zähnen sehen, dann rennt, was das Zeug hält." Andererseits sind auch Menschen, trotz ihrer beinahe einzigartigen Fähigkeit, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, wenig geneigt, diese Fähigkeit zu nutzen. Ärgerlich ist nur, daß diese ganze Räubergeschichte in Neuseeland ziemlich plötzlich begann und daß, bis die Natur anfängt, bevorzugt etwas nervösere und leichtfüßige Kakapos hervorzubringen, einfach keine mehr da sein werden, sofern sie das bewußte Eingreifen des Menschen nicht vor etwas schützt, mit dem sie allein nicht fertig werden. Es wäre hilfreich, wenn viele von ihnen zur Welt kämen, aber damit stoßen wir auf weitere Probleme: Der Kakapo ist ein Einzelgänger.: Er mag keine anderen Tiere. Er mag es nicht mal, mit anderen Kakapos zusammenzusein. Manche Kakaposchützer fragen sich, ob der Paarungsruf des Männchens das Weibchen nicht tatsächlich abstößt, was die Art von biologischer Absurdität darstellt, die man sonst nur in Diskotheken findet. Alles, was der Kakapo wegen seiner Paarung veranstaltet, ist herrlich bizarr, außerordentlich gründlich vorbereitet und fast vollkommen wirkungslos. Und das tun sie: Das Kakapo-Männchen baut sich ein "Track and bowl system", das nichts weiter ist als eine grob ausgehobene, flache Bodensenke, zu der ein oder zwei Pfade durch das Unterholz hinführen. Das einzige, was diese Pfade von denen anderer durch die Gegend tappender Tiere unterscheidet, ist, daß die Pflanzen zu beiden Seiten äußerst präzis gestutzt sind. Dabei achtet der Kakapo auf eine gute Akustik - also wir das "Track and bowl system" häufig vor einer dem Tal zugewandten Felswand zu finden sein -, und wenn die Paarungszeit beginnt, sitzt er in seiner Schüssel und schreit. Und das ist eine ungewöhnlich Vorführung. Der Kakapo bläst zwei riesige Luftsäcke an seinen beiden Brustseiten auf, versenkt den Kopf dazwischen und beginnt etwas von sich zu geben, was er für aufregende Grunzlaute hält. Die Laute werden stufenweise tiefer, hallen in seinen beiden Luftsäcken wider, breiten sich dann in der Nachtluft aus und erfüllen die Täler im Umkreis von Meilen mit dem schaurigen Klang eines gewaltigen, in der Nacht schlagenden Herzen. Der Lockruf ist tief, sehr tief, genau auf der Schwelle zwischen dem, was man gerade noch hören kann, und dem, was man spürt. Das heiß, daß der Ton zwar eine große Reichweite hat, man aber nicht sagen kann, von wo er kommt. Da das Kakapo-Weibchen genausowenig sagen kann, woher der Kakapo-Schrei kommt, kann man den Lockruf getrost als mangelhaft bezeichnen. "Komm und hol mich!" - "Wo bist Du?" - "Komm und hol mich!" - Wo zum Teufel steckst Du denn?" - "Komm und hol mich!" - "Hör mal zu, soll ich kommen oder nicht?" - "Komm und hol mich!" - "Hergott nochmal!" - "Komm und hol mich!" - "Ach, fick dich doch ins Knie!", wäre wohl die ungefähre Entsprechung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Nun ist es zwar so, daß das Männchen noch eine Vielzahl anderer Geräusche ausstoßen kann, wir jedoch nicht wissen, was sie bedeuten. Zu den Geräuschen gehören ein hochschwingender, metallischer, nasaler "Tsching"-Ton, Summen, Schnabelklicken, "Skrarken" (Skrarken ist genau das, wonach es sich anhört - der Vogel macht dauernd "Skrark"), "Kreisch-Krähen", schweineähnliches Grunzen und Quicken, entenähnliche "Quarks" und eselähnliche Schreie. Außerdem gibt es noch die aus einer weiteren Unzahl langezogener, aufgewühlter Klagekrächzer bestehenden Leidensschreie, die die Jungtiere von sich geben, wenn sie über irgendwas stolpern oder aus Bäumen fallen. Einige dieser Geräusche bekommt man in fortgeschrittenen Balzphasen zu hören. Das "Tsching" zum Beispiel, das nicht so weit zu hören ist, ist sehr gut anzupeilen und kann einem von nächtelangem Lockrufen aufgerüttelten Weibchen (das Rufen dauert manchmal sieben Stunden pro Nacht, und das für eine Dauer von bis zu drei Monaten) helfen, einen Partner zu finden. Aber auch das funktioniert nicht immer. Fortpflanzungsfähige Weibchen waren berühmt dafür, an gänzlich unbesetzten Schüsseln aufzukreuzen, ein bißchen in der Gegend herumzustehen und dann wieder zu verschwinden. Es liegt nicht daran, daß sie nicht willig wären. Der Geschlechtstrieb ist bei fortpflanzungsbereiten Weibchen extrem ausgeprägt. Man weiß von einem Kakapo-Weibchen, das in einer Nacht zwanzig Meilen marschiert ist, nur um ein Männchen zu besuchen, und dann am nächsten Tag wieder zurückzuwandern. Unglücklicherweise ist jedoch die Phase, in der sich das Weibchen so verhält, ziemlich kurz. Als wäre nicht alles schon schwierig genug, kann das Weibchen nur dann in diese Verfassung geraten, wenn besondere Pflanzen, zum Beispiel die Steineibe, Früchte tragen. Was nur zweimal jährlich der Fall ist. Bis es soweit ist, kann das Männchen schreien, soviel es will, ohne das es irgend etwas nützt. Die pingeligen Ernährungsbedürfnisse des Kakapo sind wieder ein weiteres Problemfeld, das einen zur Verzweiflung treiben kann. Was unter dem Strich nach all diesen Monaten des Aushebens und Balzens und Wanderns und Skrarkens und Getues wegen irgendwelcher Früchte herauskommt, ist, daß das Kakapo-Weibchen alle drei oder vier Jahre ein einziges Ei legt, das prompt von einem Hermelin gefressen wird. Der Kakapo ist kein wütender oder gewalttätiger Vogel. Er geht seinen verschrobenen Eigenheiten eher gewissenhaft und im Stillen nach. Nicht nur, daß der Kakapo etwas aufgegeben hat, was wir alle uns so sehnlich wünschen, macht ihn unwiderstehlich, sondern auch, daß er damit einen gräßlich Fehler begangen hat. Er ist ein Vogel, der einem ans Herz wachsen kann. Und das DOC (New Zealand Department of Conservation) sorgt dafür, daß sich die restliche Bande dieser würdevollen behämmerten Vögel nicht vom Angesicht unseres Planeten verabschiedet, sonder langsam wieder vermehrt.


Douglas Adams / Mark Carwadine: Last Chance To See; William Heinemann Ltd., London 1990